Vom Ersticken an der Welt

Wut soll Triebkraft für politische Befreiungskämpfe sein. Doch kann sie tatsächlich emanzipatorische Kraft entfalten, wenn die Ideale der Rationalität und Produktivität alle Bemühungen ersticken, eine freiere Gesellschaft zu gestalten? Ein Essay von Leonard Wunderlich.

Ist aus dem alltäglichen Kreisel des Immergleichen überhaupt noch ein Ausbrechen möglich? Illustration: Marie Blickensdörfer.

Die U3 fährt in die Haltestelle ein, Studierende strömen aus den überfüllten Waggons gen Campus im Herzen Dahlems… – sowie in gleichsam jedem Reportagenentwurf, der innerhalb der FURIOS-Redaktion zu Papier gebracht wird. Der schier immergleiche Anfang eines jeden situativ ausstaffierten Artikelbeginns – er ist weniger Resultat mangelnder Kreativität der Autor*innen. Vielmehr verweist er auf zwei tiefer liegende Befunde: das immergleiche Geschehen sowie die immergleiche Sicht auf das Geschehene. Die Welt ist flach geworden.

Hinter quellwolken-verhangenen Gedanken offenbart sich – in einem geistig lichten Moment – ein gleichförmig monotoner Alltag: Auf Lernen und Lohnarbeit folgen Heimweg und Einkauf, darauf Essen und Schlafen. Das mühsame Aufstehen am Morgen schürt unsere Vorfreude auf die abendliche Rückkehr in das Träumeleinland – oder umgekehrt: unsere Abscheu vor dem erst beginnenden Tag. Unsere emotionale Amplitude ist bis auf ein Minimum zusammengeschrumpft; einzige Ausnahmen sind Stressmomente vor nahenden Abgaben oder infolge zeternder Autoritäten. Jede andere Situation, die uns in emotionale Erregtheit versetzt, zieht Schuldgefühle nach sich, die eigene Zeit nicht sinnvoller verbracht oder nicht weniger verschwendet zu haben: Denn der Kater danach, sind Musik und Lichter einmal aus, wehrt sich gegen unsere Rückkehr in die produktive Gleichförmigkeit.

Anspannende Entspannung

Jede Fantasie oder bloße Ahnung von einem Leben jenseits der ziellosen Suche nach dem Traumjob und unserem Selbst ersticken. Wir lesen keine Literatur, schauen keine Filme mehr, die uns eine andere Welt durch die Augen der Figuren sehen lassen, und so unseren emotionalen Erfahrungshorizont weiten. Wir lesen »Die 1%-Methode – maximale Veränderung, maximale Wirkung: Mit Micro-Habits zum Erfolg« oder schauen »Suits«, nach denen wir unser Selbst zu verwirklichen hoffen und uns in den neoliberalen Duktus einebnen.

Im Alltag begegnen wir unseresgleichen – leere Blicke, von Müdigkeit gezeichnete Augenringe, nervöses Koffein-induziertes Zittern. Dabei ist der Anspruch liberaler Gesellschaften ein gegenteiliger: Jede*r Einzelne soll das eigene Leben frei gemäß den eigenen Idealen und Wünschen gestalten können. Doch anstatt uns von traditionellen, religiösen, standesförmigen Zwängen letztgültig zu befreien, so wie es das Projekt der Moderne vorsah, haben wir uns abermals in Ketten gelegt. Wir haben uns an den Leitplanken der neoliberalen Gesellschaft entlang vor einer Majestät in den Dreck geworfen: Ihre Majestät, die Zweckrationalität. Sie ist ein Mephisto.

Unvernünftige Vernunft

Denn unterdrücken wir unsere mehr oder minder spontanen Triebe, die in Richtung unserer Wünsche, Träume und Vorstellungen vom Guten Leben deuten, dann tun wir dies – in Anbetracht der herrschenden gesellschaftlichen Verhältnisse – mit einem gewissen Recht. In einer von sozialem Kapital, von allumfassenden Konkurrenz- und Wettbewerbsbeziehungen und einer individuelle Freiheit in Konsum verortenden Gesellschaft erscheint jedes Streben nach Zielen fern des neoliberalen Ideals eines eigenverantwortlichen und autonomen Individuums als widersinnig. Insofern denken und handeln wir durchaus vernünftig – nach Vernunftvorstellungen allerdings, die unser Handeln auf Ziele ausrichten, die nicht unsere eigenen sind.

Diese instrumentelle Vernunft verdichtet das Leben zu einem lückenlosen Produktions- und Konsumtionsprozess. Sie ist vernünftig, weil sie sich die Rationalität zum Maßstab unseres Handelns macht. Sie ist aber gerade instrumentell, weil sie nicht normativ nach den Zwecken eines vernünftig eingerichteten Lebens fragt, sondern jeden Lebenslauf auf unhinterfragte Ziele ausrichtet: möglichst effiziente Produktion bei möglichst umfassendem Konsum. Zum Zweck einer möglichst hohen Produktion wird möglichst umfassend konsumiert – und um zum Zweck eines möglichst umfassenden Konsums wird möglichst effizient produziert. Wir, die Subjekte dieser allumspannenden Tautologie, sind eindimensional geworden. 

Freiheitliche Unfreiheit

In der spätmodernen Gesellschaft sind wir frei, indem wir konsumieren – frei, aus einer Fülle von Angeboten zu wählen. Und wir sind (doppelt) freie Arbeitnehmer*innen; de jure frei, unsere Beschäftigung zu wählen – de facto, solange wir überhaupt arbeiten. Wir sollen uns frei entfalten können in Konsum und Produktion. Also produzieren wir, bis wir völlig erschöpft von täglicher Produktivität erschlafft in die Couch sinken und uns mit redlich verdienten Knabbereien vollstopfen, bis wir die ausreichende Bettschwere erreicht haben, um schlafen zu gehen. Wir sind Gefangene dieses Kreislaufs. Denn gleichsam jede affektive Regung, die über die alltägliche Gleichförmigkeit hinausweist, wird von ebendiesem Alltag noch vor ihrer Entstehung erstickt. Sind wir also bereits so eingeebnet in den Zyklus von Produktion und Konsum, von Aufbegehren und Verzweiflung an der uns begegnenden Starre, dass jede grundlegende Veränderung unmöglich geworden ist? Sollten wir uns stattdessen mit einer vollends durch Produktion und Konsumtion vermittelten Welt abfinden, in der wir uns eingerichtet haben und in der wir eingerichtet sind?

Vielleicht widersprechen die wenigen, aber doch bestehenden Momente affektiven Aufbegehrens gegen unsere Ohnmacht dieser pessimistischen Einschätzung einer vollends vermittelten Welt, aus der kein Ausbruch mehr möglich scheint. Vielleicht bergen die Momente der Wut, der Abgrenzung oder der Verzweiflung doch ein aufbrechendes, umstürzlerisches Potenzial – vielleicht auch nicht. Vielleicht aber steht am Beginn des nächsten Textes ein anderer Anfang, am Ende des nächsten Arbeitstages nicht die behagliche Couch und am Ende dieses Textes nicht die vollendete Resignation.

Autor*in

Leonard Wunderlich

Hat den leisen Verdacht, dass Hochschulpolitik doch irgendwo nicht völlig unwichtig ist.

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