Ein Abend mit Ophelia

Das Stück Ophelia’s Got Talent an der Volksbühne Berlin taucht in die Abgründe des Frauseins ein und reißt die Theatergäste mit. Die Choreographin und Regisseurin Florentina Holzinger macht das Publikum dabei wütend über die Vergangenheit und Gegenwart und schafft es dennoch, Hoffnung auf die Zukunft zu geben. Eine Rezension von Lara Ziegler.

Talentshow oder Gesellschaftskritik – oder beides? Foto: Lara Ziegler

Und wieder die Toilettenschlange. 17:57 Uhr in der Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz und ich stehe noch an. Um 18 Uhr geht es los und es hat schon zwei Mal schrill geläutet. Jetzt auch noch zu spät zum Anfang der Show. Da, das dritte Klingeln, das vierte, immer forscher und ich ärgere mich zum hundertsten Mal darüber, dass das Frauen-WC mal wieder aus allen Nähten platzt und die Männer schon im Saal sitzen. Das Rauschen des Wassers überspült meine Gedanken und um 18:01 Uhr auch meine Hände. Ich werde in den Theatersaal geschwemmt.

Tiefe Wasser sind nicht immer still 

Ophelia‘s Got Talent handelt vor allem davon: vom Wasser. Die Choreographin Florentina Holzinger erzählt die Geschichte der Beziehung zwischen Frauen und Wasser in der Mythologie und nutzt diese als Symbol für die Situation von Frauen in der modernen Gesellschaft. Zu diesem Zweck hat sie Sirenen und Meerjungfrauen, Ophelia und Loreley, eingeladen. Sie tauchen aus alten Volksmärchen, der griechischen Mythologie oder Shakespeare’s Hamlet auf, in denen sie stark mit dem Element Wasser in Verbindung stehen. Bilder von weiblicher Reinheit, Unschuld, verführerischer Schönheit und dem tragischen Tod sind kulturgeschichtlich verankert – ein Zustand, den Holzinger versucht aufzubrechen. Das diverse Ensemble setzt sich bei dieser Produktion ausschließlich weiblich zusammen und zeigt radikal ehrlich die Realität des Frauseins in dieser Welt – früher und heute.

Vor mir tut sich ein Bühnenbild auf, das nach Castingshow-Kitsch und 10-minütigen Werbepausen schreit. „Ophelia hat Talent” – schaue ich mir hier wirklich eine Art Talentshow an? Holzinger ist bekannt für Inszenierungen mit Schockfaktor. Ich bin darauf eingestellt und im Grunde doch nicht vorbereitet. Auf der Bühne gibt es keine Tabus: Nacktheit, Darstellungen von körperlicher Gewalt, Sexualität, Selbstverletzung und Tod. Nichts für schwache Nerven.

Materialschlacht mit Wirkung

Eine Piratin als Moderatorin, eine Jury, eine Akrobatin, eine Schwertschluckerin und eine Tänzerin – es beginnt tatsächlich als Talentshow. Doch dann geht etwas schief – es kommt zum Bruch in der Handlung. Die Castingshow-Bühne verschwindet und plötzlich ist nichts wie vorher. Über die nächsten zweieinhalb Stunden wechseln sich verschiedenste Szenen ab, die ineinander übergehen. Jede hat ihr eigenes Thema mit entsprechendem Titel und wimmelt von Wassermotiven – ein roter Faden ist jedoch kaum zu finden. 

Die Möglichkeiten der Bühnentechnologie werden voll ausgeschöpft: Wasserbecken auf der Bühne, Sturmwind, ein Helikopter stürzt vom Himmel. Die Bilder bleiben im Kopf. Und die Nacktheit? Rutscht nach wenigen Minuten komplett in den Hintergrund. Sexuelle Männerfantasien und ein verstaubtes Frauenbild werden im Sturm zurückerobert und satirisch widergespiegelt. Zahlreiche feministische Themen stehen im Mittelpunkt: Ideale von Schönheit und Perfektion, die das weibliche Körperbild prägen. Sexuelle Gewalt an Frauen. Selbst väterliche Beziehungen, Kindheit und das Muttersein werden angesprochen. Alles scheint im Desaster zu enden – und doch bleibt ein hoffnungsvoller Nachgeschmack.

Es bleibt kein Auge trocken – zumindest nicht meins. Als ich in die Nachtluft trete, zittere ich immer noch. Man wird von einer Emotion in die nächste geschleudert: Momente des Comic Reliefs zwischen Ehrfurcht und Schock. Was auf der Bühne passiert, wirkt so fern und doch so schmerzhaft vertraut. Ich habe gelacht und geweint, war schockiert und angeekelt, wütend und verzaubert. Und am Ende blieb mir nichts, außer stehend zu applaudieren.

Uraufführung: 15. September 2022

Nächste Aufführungstermine in der Volksbühne Berlin:  12.01.24, 13.01.24, 17.02.24

Preis: ab 54,10 €

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1 Response

  1. Hanna sagt:

    Wow, habs auch gesehen, tolle Beschreibung/Kritik!
    Entspricht meiner Wahrnehmung.

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