Mut, neue (akademische) Wege zu gehen

Seit dem Sommersemester 2022 lädt der Offene Hörsaal der FU endlich auch wieder auf dem Campus zu verschiedenen Vorlesungen ein. Die studentische Beteiligung lässt dabei jedoch zum Teil zu wünschen übrig – mit Grund? Mira Schwedes war bei einer Lesung dabei. 

Im Offenen Hörsaal ist auch für fachfremde neugierige Ohren was dabei. Illustration: Johanna Böker

Im Hörsaal 1b der Freien Universität sind am Abend des 24. Mai noch viele Plätze frei. Hier findet heute der sechste Vortrag der Vorlesungsreihe Jüdische Literaturen in den Sprachkulturen der Welt statt. Die Ringvorlesung ist Teil des Offenen Hörsaals und  für alle Studierende der Universität und darüber hinaus geöffnet. Die Zahl der Zuhörer*innen scheint sich jedoch in Grenzen zu halten und es kommt kaum zu so vollen Hörsälen, wie man sie  von einigen Einführungsveranstaltungen kennt. Die Gründe dafür sind vielfältig. Viele Studierende haben keinen Überblick über die Vielzahl an Veranstaltungen, die außerhalb der akademischen Pflichtveranstaltungen an der Uni stattfinden. Außerdem ist die Ringvorlesung nur für wenige Studiengänge anrechenbar und im eigenen, oft überquellenden, Stundenplan hat eine freiwillige, fachfremde Vorlesung am Dienstagabend dann eben nicht die höchste Priorität. Verständlich aber schade, denn der Besuch kann sich lohnen.

„Sich dem weitgehend Unbekannten stellen”

Der Titel der heutigen Lesung lautet „Reorientierung: Jüdische Literatur, ostwärts gelesen” und präsentiert einen literaturwissenschaftlichen Forschungsansatz, der sich dem Orient als Wendepunkt im Lesen jüdischer Literatur zuwendet. Ein zu spezifisches Thema, um Studierende aus Fächern abseits der Judaistik und der Literaturwissenschaften zu interessieren? Nein, denn die Vortragenden Prof. Dr. Galili Shahar und Omri (Hannah) Ben Yehuda bieten nicht nur einen interessanten Einblick in ihre wissenschaftlichen Fragestellungen, sondern teilen darüber hinaus noch viel grundlegendere Gedanken über das Forschen, Lernen und Studieren.

Die Lesung beginnt mit einer kurzen Vorstellung des Forschungsansatz durch Shahar. Dabei ist das Wortspiel ReOrientierung  Programm. Es soll den Versuch bezeichnen jüdische Literatur mit der Kritik des Orientalen zu analysieren und „sich dem weitgehend Unbekannten zu stellen”. Dieser Ansatz wird dabei als Prozess verstanden, denn der Orient ist für Shahar kein Ort, sondern „vielmehr eine Ausrichtung”. 

Ben Yehuda konkretisiert daraufhin den abstrakten Ansatz der Reorientierung anhand des Beispiels von Goethe, der sich in jungen Jahren mit arabischen und hebräischen Literaturen beschäftigte und vom Orient „als Land des Fremden” schrieb. 

Im Wechsel verdeutlichen Ben Yehuda und Shahar so ihre Methode an weiteren Beispielen, die vom Psychoanalytiker Freud über die deutsche Dichterin Lasker-Schüler bis hin zu dem hebräischen Poet Yeshurun reichen. 

Auffallend ist dabei die ergebnisoffene Herangehensweise. Die beiden Vortragenden fordern eine Umwandlung der Methode in der literaturwissenschaftlichen Forschung und legen ihren Fokus auf den „Prozess des Werdens” gegenüber dem Suchen nach abschließenden Antworten. 

Verwirrung zulassen

Genau darin liegt auch der große Mehrwert, den der Vortrag für Studierende aller Fachrichtungen hat. Denn das akademische System lädt immer wieder dazu ein, sich beim Lernen und Forschen etablierten Strukturen und Prozessen zu fügen. Dagegen aber gilt es sich zu wehren. Studieren und Forschen heißt, laut Shahar und Ben Yehuda, nämlich auch immer den (Forschungs-)Weg in Frage zu stellen. Ebenso wie Verwirrungen und Unbekanntes – wie etwa in der Auseinandersetzung mit der Verschmelzung  von hebräischer und arabischer Literatur – anzunehmen.

Nach dem Vortrag wird im Hörsaal der Raum für Diskussion geöffnet. Auf eine der Publikumsfragen antwortet Shahar: „Auch wir studieren noch. Wir sind noch auf unserem eigenen Weg.” Neben interessanten Einblicken in literaturwissenschaftliche Fragestellungen und Leseempfehlungen, bleibt nach dem Vortrag vor allem diese Einstellung hängen. Die Lesung bekräftigt das konstante Hinterfragen der Forschung und des Selbst und macht Mut, Verwirrung zuzulassen.

Diese Reflexionen sind für Studierende aller Fachrichtungen gleichermaßen bedeutend und der wahrscheinlich größte Grund, weshalb sich der Besuch der Ringvorlesung auch neben den eigenen Lehrveranstaltungen lohnt. Außerdem bietet eine fachfremde Veranstaltung neue Perspektiven auf den eigenen Studiengang und der freiwillige Besuch kann eine Möglichkeit sein, den eigenen akademischen Weg von reinen Verpflichtungen zu lösen und wieder ein bisschen selbstbestimmter zu gestalten – Plätze sind jedenfalls noch frei!


Im Sommersemester 2022 finden vier Vortragsreihen im Rahmen des Offenen Hörsaals der Freien Universität Berlin statt. Wöchentlich sprechen Gäste zu Themen wie globaler Umweltpolitik, akademischer Lehre und der Geschichte der Eugenik an der FU.

Autor*in

Ähnliche Artikel

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert