Wut – eine Emotion der Privilegierten?

Wie reagieren Menschen normalerweise, wenn du wütend wirst? Beeindruckt, überzeugt? Oder fragen sie, ob Du deine Tage hast? Kommt wohl darauf an, wie Du von der Gesellschaft gelesen wirst. Wie wütend darfst Du sein, bevor Dir Deine Rationalität abgesprochen wird? Ein Essay von Paula Friedel

Illustration: Paula Friedel

Politikunterricht, siebte oder achte Klasse. Ein enger Raum, gefüllt mit dreißig angehenden Teenager*innen; es riecht nach Sprühdeo und Hormonen. Es ist später Nachmittag, die Stimmung angespannt – alle wollen nach Hause. Trotzdem soll über verschiedene Gesellschaftskonzepte diskutiert werden. Ich gerate mit Daniel aneinander. Wir sind verschiedener Meinung und ausnahmsweise äußere ich das auch. Nicht nur freundlich, sondern sehr bestimmt. Die Quittung kommt am nächsten Tag: Für den Rest der Woche nennt mich der männliche Teil meiner Klassenkamerad*innen »Kampflesbe«.

»How dare you?«, fragt Greta Thunberg auf dem UN-Klimagipfel 2019 in New York. Ihr Gesicht ist wutverzerrt, ihre Stimme zittrig und heiser. Sie findet keine freundlichen, vermittelnden Worte, sondern richtet sich vorwurfsvoll und wütend an die vor ihr versammelten Spitzenpolitiker*innen.

Die Reaktion der Öffentlichkeit: Wie kann sie es wagen? Übertrieben, lächerlich, anmaßend. CDU-Bundestagsabgeordneter Roderich Kiesewetter twittert: »Wer da rational argumentieren will, ist von vorneherein schon diskreditiert. Das ist die neue ›Qualität‹ mangelnden Wissens zur Sachlichkeit. Bitter«. Weniger wirr ausgedrückt: Wer emotional auftrete, deren*dessen Aussagen könne man von vornherein nicht ernst nehmen. Donald Trump äußert sich ebenfalls: »So ridiculous. Greta must work on her Anger Management problem. Chill Greta, Chill!«

Das sind keine Ausnahmefälle. Insbesondere marginalisierte Gruppen haben es schwer, ihre Wut  auszudrücken. Von denen, die im hegemonialen und patriarchalen System Privilegien genießen, wird sie oft nicht ernst genommen, heruntergespielt und diskreditiert.

Wütenden Frauen* wird in solchen Kontexten eine ganz eigene Eigenschaft attestiert: ›Hysterie‹. Das Wort stammt aus dem Altgriechischen hystéra, die Gebärmutter, und beruht auf einem noch bis vor wenigen Jahrzehnten weit verbreiteten medizinischen Mythos: Wird die Gebärmutter einer Frau nicht regelmäßig mit Sperma gefüttert, wandert sie suchend im Körper umher und beißt sich nicht selten im Gehirn fest. Kein Wunder also, dass es im 19. und 20. Jahrhundert üblich war, eine widerspenstige (Ehe-)Frau in eine psychiatrische Klinik einzuweisen. Nochmal einige Jahrhunderte zuvor wurden wütende Frauen als Hexen bezeichnet. Endstation Scheiterhaufen. Das bleibt bei uns haften: Heute wird weiblich gelesenen Personen oft fehlende Rationalität, mangelndes Urteilsvermögen und übertriebene Emotionalität zugeschrieben. Stichwort: »Hast du deine Tage, oder was?«

Nicht nur das zugeschriebene Geschlecht hat Einfluss darauf, wer wie wütend werden darf. Wer diesen Missstand anprangert, wird schnell als irrational abgestempelt. Das Narrativ der angry black woman, das auch heute noch in den Medien hyper-präsent ist, stellt Schwarze Frauen* in einem eindimensionalen Klischee als aufbrausende und aggressive Person dar, mit aufgerissenen Augen und gefletschten Zähnen.

Aber nicht alle Menschen werden automatisch zur unberechenbaren Furie erklärt, sobald sie laut ihre Meinung äußern. Männlich gelesene Politiker und Führungspersonen, die, wie beispielsweise Donald Trump, für ihre Wut bekannt sind, profitieren hingegen von ihrem hitzigen Auftreten. Statt übertrieben, irrational und hysterisch sind hier die Adjektive charismatisch, entschlossen oder stark.

»Wut ist das moralische Eigentum weißer Männer und Jungen«, folgert Pia Klemp in ihrem Buch Wutschrift. Dem Rollenbild einer Frau* falle in unserer Gesellschaft eine andere Aufgabe zu: die Wogen zu glätten statt neue anzustoßen. Wer für ein harmonisches Miteinander zu sorgen hat, kann sich ein negatives und schwieriges Gefühl wie Wut nicht erlauben.

Dabei haben marginalisierte Bevölkerungsgruppen mehr Anlass dazu, wütend zu sein. »Wut und Diskriminierung verstärken einander.«, schreibt Ciani-Sophia Hoeder in Wut und Böse. Je mehr Mikroaggressionen eine Person abbekommt, desto mehr Stress ist sie ausgesetzt und desto wütender müsste sie sein.«

Der Begriff Tone Policing ermöglicht seit den 2010ern die Benennung eines weit verbreiteten Phänomens. Wer Tone Policing betreibt, beschwert sich über den Tonfall einer geäußerten Kritik, anstatt sich mit dem Inhalt dieser selbst auseinanderzusetzen. So wird der Inhalt einer Aussage nichtig gemacht und die Person als irrational diskreditiert. Zumeist kommt Tone Policing von einer nicht-marginalisierten Seite. Etwa einer weißen Person, die sich über den Ton, in dem über Rassismus gesprochen wird, aufregt.

Marginalisierte Personen geraten so in ein Paradoxon ohne Ausweg: Das vorgeschobene Abwehrschild der Rationalität funktioniert hier auf eine perfide Art und Weise perfekt. Wie sollen betroffene Menschen ihrer Diskriminierungserfahrung Luft machen und Veränderung bewirken, wenn sie sich ihre Wut nicht anmerken lassen dürfen, weil sonst der Realitätsbezug ihrer Erfahrungen in Frage gestellt wird?, fragt Pia Klemp in Wutschrift. Nach dieser Logik wäre die beste Strategie, die eigene Wut zu unterdrücken. Das hat jedoch nachweislich negative Auswirkungen auf die mentale Gesundheit und kann zu Depressionen führen oder diese verschlimmern.

Diese sogenannte Rationalität, die in solchen Diskursen eingefordert wird, ist nur wenigen vergönnt. Was aber ist überhaupt rational? Innerhalb einer Gesellschaft, aus deren Regeln wir nicht ausbrechen können, gibt es keine von außen kommende, losgelöste Rationalität. Wir sind immer unsere Perspektive, ob wir wollen oder nicht. Eine nicht-Schwarze Perspektive auf Rassismus ist keine neutrale Perspektive – sie ist eine weiße Perspektive.

Natürlich ist es einfacher, ruhig und gelassen über Rassismus zu sprechen, wenn man ihn nicht jeden Tag in Blicken, Fragen und Tonfällen erlebt. Natürlich ist es leichter, eine Generation junger Menschen als hysterisch und realitätsfern abzutun, wenn man selbst die Ausmaße der Klimakrise nie erleben wird und ein Leben lang den Luxus eines gigantischen CO2-Fußabdrucks genossen hat. Wie viel bequemer ist es da, die Betroffenen und Wütenden als ›hysterisch‹ zu bezeichnen und den eigenen Standpunkt zum Zentrum der Rationalität zu erklären? Und wer legt die Regeln rationaler Kommunikation fest? Praktischerweise die privilegierte Mehrheit.

Mit diesem Blick auf Wut in unserer Gesellschaft ergibt es Sinn, dass FLINTA* dazu erzogen werden, möglichst nicht aus der Haut zu fahren. Auch und gerade wenn sie ungerecht behandelt werden. So wird eine ›Kampflesbe‹ schnell zur stillen Maus, genau so, wie es das Patriachat am liebsten hat.

Wut ist jedoch vielschichtiger und wichtiger, als es uns in unserer Sozialisierung beigebracht wird. Sie funktioniert nicht nur als Warnsignal und Überlebensinstinkt, um Grenzen zu setzen und zu schützen, »sondern auch als rationale Antwort auf systemische Benachteiligung und strukturelle Diskriminierung«. Wut ist nicht immer aggressiv und destruktiv – Wut kann äußerst produktiv und wichtig für individuelle und auch gesellschaftliche Veränderung sein.

Genau dieses Potenzial der Wut ist es allerdings, was bei vielen Menschen Unbehagen auslöst: die Angst vor Veränderung. Wut hat die Macht umzuwerfen, einzureißen und umzuverteilen, bis kein Stein mehr auf dem anderen steht.

Was soll bloß werden, wenn ›Frauen‹ nicht mehr gleich Frauen sind und ›Männer‹ nicht mehr Männer? Wenn die alteingesessenen Nachbar*innen den Streuselkuchen beim Dorffest jetzt nicht mehr nur mit weißen Menschen teilen müssen?

Es muss mehr Raum und Bereitschaft geben, sich mit Wut auseinanderzusetzen: nicht ausgestattet mit Schutzschildern aus Ignoranz und Verleugnung, sondern mit dem Potenzial, Diskriminierung und Missstände sichtbar zu machen. Das bedeutet auch, die eigene Perspektive zu hinterfragen. »Wir müssen Wut normalisieren«, schreibt Sibel Schick. Die Wut marginalisierter Personen dürfe nicht genutzt werden, um diese zu disqualifizieren, nur um ihnen aus dem Weg gehen zu können. Wir dürfen nicht aufhören, wütend zu werden, nicht um der Wut, sondern um der Veränderung willen. Und wir dürfen nicht aufhören, einander dabei trotzdem zuzuhören.

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1 Response

  1. Cloudy bis heiter sagt:

    Ich habe nur zwei Worte: Vielen Dank!

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