Die Gezeiten gehören uns ist ein psychologischer Deep Dive in die Beziehung zwischen den beiden besten Freundinnen Eulabee und Maria Fabiola. In ihrem Coming-of-Age Roman erzählt Vendela Vida von der Verletzlichkeit und Grausamkeit der Jugend. Eine Rezension von Anja Keinath.
„Wir sind dreizehn, fast vierzehn, und die Straßen von Sea Cliff gehören uns.“ Mit diesem Gefühl von jugendlichem Hochmut beginnt Vendela Vidas Roman und versetzt die Lesenden augenblicklich in die eigene Jugend zurück – eine Zeit voller Überheblichkeit, die damals noch unendlich schien. Doch bereits nach wenigen Seiten offenbaren sich die grausamen Seiten des Teenagerdaseins. Gefühlsmäßig bewegt sich Die Gezeiten gehören uns damit irgendwo zwischen nie endenden Sommertag, Schiffbruch und Gestrandetsein.
Die Story: Don’t You Know That You’re Toxic?
San Francisco im Jahr 1985: Eulabee und Maria Fabiola sind beste Freundinnen: „Wenn ich »wir« sage, meine ich manchmal uns vier Mädchen aus Sea Cliff, die an der Spragg School for Girls in die achte Klasse gehen. Aber wenn ich »wir« sage, meine ich immer Maria Fabiola und mich.“ Die Dynamik zwischen ihnen, die Eulabee später selbst zum Verhängnis werden wird, beschreibt sie zu Beginn so: „Getrennt voneinander sind wir brave Mädchen. Wir benehmen uns. Zusammen aber entsteht irgendeine seltsame Alchemie, und wir werden zur Gefahr“.
Eines Morgens behauptet Maria Fabiola, ein Mann habe die Freundinnen auf dem gemeinsamen Schulweg belästigt, doch Eulabee widerspricht ihr und wird daraufhin aus ihrem Freundeskreis verbannt. Damit verschwindet auch Eulabees Wir-Erzählform vom Anfang des Romans und ihre neue Einsamkeit wird spürbar. Kurz danach verschwindet Maria Fabiola für einige Tage und behauptet, entführt worden zu sein. Eulabee ist sich aber sicher: Ihre Freundin hat sich die Entführung ausgedacht. Dann entfaltet sich die toxische Energie Maria Fabiolas und testet die Grenzen von Loyalität und Freundschaft aus.
Zwar spielt der Roman in den Jahren 1985 bis 1986, doch Maria Fabiola könnte heute genauso gut irgendwelche Stay-toxic-TikToks posten. Diese Zeitlosigkeit ist auf eine gewisse Art beruhigend, denn sie zeigt, dass es toxische Verhaltensmuster nicht erst seit heute und auch nicht erst seit Social Media gibt.
Alles, was ein Coming-of-Age Roman braucht
Die Gezeiten gehören uns liefert alles, was einen Coming-of-Age Roman ausmacht: die erste Liebe, das Austesten von Grenzen, Peer Pressure und die Sehnsucht nach Aufmerksamkeit und Bewunderung. Dialogreiche Passagen wechseln sich ab mit überheblichen Beurteilungen über Erwachsene, die einen in die eigene Jugend zurückversetzen. So lästert Eulabee über erwachsene Frauen, die der Diet Culture der 80er verfallen sind und verzweifelte Lehrer – einer davon ist Mr London:
“Irgendwann tut Mr London genau das, was ich vorhergesehen habe: Er geht aus der Tür. Er macht das auch mitten im Unterricht, wenn er sich aufregt und die Leute nicht mit bekommen sollen, dass er sich aufregt. Er weiß, dass er ein Wutproblem hat, und er geht damit um, indem er geht. Wenn er den Klassenraum verlässt, sitzen wir alle da und zählen zusammen laut bis 120, weil wir wissen, dass er zwei Minuten wartet, bevor er wieder reinkommt. Er muss irgendwo gelernt haben, dass zwei Minuten sowohl die empfohlene als auch die erlaubte Zeit sind, um rauszugehen und sich abzuregen, bevor man zurück in den Raum kommt.“
Trotz der Schwere des Romans sind Momente von Leichtigkeit ebenfalls eine Konstante. So fragt Eulabee ihre erste Liebe erfolgreich nach einem Date: „Bevor ich irgendwas vermasseln kann, drehe ich mich weg. Ich hoffe, er sieht mir hinterher mit meiner Platte, meinem Kleid, meinen Schuhen und meinen letzten drei Dollar in der Tasche. Ich spüre, wie sich ein gelockertes Pflaster von meinem Knöchel löst und abfällt, aber das interessiert mich nicht, denn ich bin unsterblich.“
Ganz nebenbei thematisiert Vida auch die ersten Berührungen im jungen Leben von Eulabee und ihren Freundinnen mit Themen wie Suizid, Drogenabhängigkeit und der Sexualisierung junger Mädchen. Die Gezeiten gehören uns ist eine Geschichte von verlorener Unschuld, Verwundbarkeit und Einsamkeit, von jungen Menschen zwischen ihrem Streben nach Unabhängigkeit und gleichzeitiger Sehnsucht nach Zugehörigkeit. Am Ende bleibt die Frage, wie sehr uns diese Zeit prägt und zu dem Menschen macht, der*die wir heute sind.
Die Gezeiten gehören uns erschien 2022 beim Hanser Verlag und kostet 22 Euro.