Unfrei, aber allein

Die Menschen hatten nie mehr Möglichkeiten als heute – und doch werden wir immer unfreier. Zeit, ins Nachdenken zu kommen und festzustellen: Unser Freiheitsbegriff ist an sein Ende gekommen. Unsere heutige Welt verlangt einen neuen! Ein Essay von Leonard Wunderlich.

Im Freiheitsjuggernaut in Richtung Abgrund. Illustration: Anna Raffelt.

Offene Landschaften, so weit das Auge reicht. Gebirgsketten, Ozeane, Wälder, in der Ferne der blaue Horizont. Ein Adler überfliegt majestätisch mit ausgreifenden Flügelschlägen die Welt. Vielleicht betritt auch ein Mensch unsere Vorstellungsbühne: Ein Cowboy reitet vor unserem inneren Auge durch die menschenleere Prärie. Nur er und sein Pferd, frei wie der Wind. Eine türkise Statue vor der New Yorker Skyline grüßt die Neuankömmlinge, die in der Stadt der Träume ihr Schicksal in die eigene Hand zu nehmen versuchen. Eine schier unüberblickbare Menge an Möglichkeiten verspricht ihnen eine bessere Zukunft…

Es sind diese Visionen, produziert durch unsere gesellschaftlichen Großnarrative oder die Kulturindustrie, die unsere Vorstellungen von Freiheit maßgeblich prägen. Dabei zeichnen sie allerdings ein bestimmtes Bild von Freiheit, das den Freiheitsbegriff bei Weitem nicht erschöpft: Freiheit bedeutet nicht zwangsläufig individuelle Freiheit, die in jenen Bildern erstrahlt. Aber die Vorstellung von Freiheit als Freiheit des Individuums ist das Resultat unserer langen liberalen Tradition, die sich über die letzten Jahrzehnte, im Neoliberalismus, noch drastisch radikalisiert hat.

Einsame Freiheit

Mit dem Aufstieg des Neoliberalismus’ wird die (individuelle) Freiheit zum höchsten Wert. Freiheit meint dabei, frei zu sein von Beschränkungen des eigenen freien Handelns durch andere. Die ideale Gesellschaft ist jene, in der die Freiheit des Individuums maximal ist – oder spitz: In der jede*r tun und lassen kann, was er*sie will! Gesellschaft erscheint nach neoliberaler Freiheitsvorstellung eher als unumgängliches Übel des gemeinsamen Lebens. Oder formvollendet in den Worten der neoliberalen Ikone und ehemaligen britischen Premierministerin Margaret Thatcher: »There is no such thing as society!« Die Gesellschaft sei höchstens die lose Summe ihrer Teile: der freien Individuen.

Geht es Neoliberalen also darum, das Individuum möglichst von der Gesellschaft zu befreien, muss auch der Staat in seiner zwangsbewährten ›Regulierungswut‹ des gesellschaftlichen Zusammenlebens als ein Übel erscheinen. Selbst unter demokratischer Regierung, argumentieren neoliberale Denker*innen, zwänge die Mehrheit allen, die von der Mehrheitsmeinung abweichen, ihren Willen auf. Daneben steht der Markt als glänzende Alternative. Er ermögliche produktive und koordinierte Interaktion freier Individuen ohne Zwang – einfach mittels des Marktes, auf dem sich frei Angebot und Nachfrage treffen. Eine ›unsichtbare Hand‹ – so das Erbe der Neoliberalen von ihrem liberalen Urvater Adam Smith – übernehme die Koordination freier individueller Interessen zum Wohle aller! Ganz ohne Zwang, gleichsam hinter dem Rücken der Handelnden. Auf dem Markt kann jede*r tun und lassen, was er*sie will – vorausgesetzt er*sie hat das nötige Geld dazu.

Zerstörerische Unfreiheit

Dass dies nicht der Fall sein könnte, ist die Erkenntnis, die den neoliberalen Traum individueller Freiheit als ein gebrochenes Versprechen ausweist. Die rechtlich garantierten Freiheitsräume, dies zu tun oder jenes zu lassen, sind erst dann reale Freiheiten, wenn ich die materiellen Möglichkeiten habe, sie auszufüllen. Denn was nutzt mir die Freiheit, im Supermarkt nach Herzenslust Waren auf meinen Wagen zu türmen, wenn ich sie doch nicht bezahlen kann? Was nutzen mir Wissenschafts- und Gedankenfreiheit, wenn ich die Studienkosten nicht tragen kann? Der Wettbewerb des freien Marktes produziert zwangsläufig ungleich (un-)freie Menschen – solche, die fliegen und nicht fliegen, kaufen und nicht kaufen können. Gewinner*innen (der marktvermittelten Konkurrenz um Freiheitschancen) existieren per definitionem nur neben Verlierer*innen. Frei, die formalen Räume der individuellen Freiheit auszunutzen, sind nur die Gewinner*innen – und zwar nur auf Kosten der Freiheit und auf dem Rücken der Verlierer*innen.

Aber glauben wir für einen Moment daran, dass jede*r es schaffen kann. Dass der Markt den Wohlstand aller bringt, um nicht nur frei zu sein, sondern ebenso frei zu handeln. Wir alle sitzen im Flugzeug, im Porsche mit hunderten Kilometern pro Stunde über den Erdball ballernd. Dann stellen wir fest: Der Planet, von dem aus wir den Juggernaut unserer individuellen Freiheit bestiegen haben, ist, schauen wir einmal in unserer endlosen Raserei hinaus, nicht mehr unsere Heimat. Wir haben unseren Planeten im Freiheitswahn zugrunde gerichtet.

Denn unsere kapitalistische Wirtschaftsweise verlangte und verlangt stets weiteres Wachstum, um unsere Freiheitsgrade zu weiten – um die Freiheitsschlösser der Wohlhabenden aufzuschütten und um für die Übrigen Luftschlösser zu bauen. Wirtschaftswachstum vergrößert den Kuchen, von dem wir zu unserer Freiheit essen können. Aber Wirtschaftswachstum verlangt einen, mindestens global und bis auf weiteres, stets wachsenden Ressourcenverbrauch. Unsere Freiheits(luft)schlösser verzehren den Planeten – und damit unsere eigenen Lebensgrundlagen. Die Klimakrise konfrontiert uns zunehmend mit wachsenden Quellen der Unfreiheit: Mit Fluten, Dürren, Landverlust… Unsere individuelle Freiheit schafft sich im eigens verursachten Klimawandel selbst ab – und uns gleich mit!

Der neoliberale Freiheitsbegriff offenbart sich also angesichts (1) für die Mehrheit nicht einlösbarer Freiheitsversprechen und (2) seiner selbstzerstörerischen Wirkung in Form der Klimakrise als sein Gegenteil: als Quell der Unfreiheit. Der Juggernaut kommt zum Stehen, Übelkeit steigt in uns auf. Doch wir steigen noch nicht aus.

Aufbruch in eine freiere Gesellschaft

Dass wir als Gesellschaft weiterhin am neoliberal-individualistischen Freiheitsverständnis festhalten, ist selten reine Verblendung. Vielmehr zeigen sich darin harte ökonomische Interessen. Superreiche und neoliberale Unternehmer*innenikonen und ihre politischen Repräsentant*innen predigen stur weiter radikal-individualistische Freiheit, die ihren Unternehmungen nutzt. Dabei sind sie sich durchaus den verheerenden planetaren Auswirkungen ihres Freiheitsbegriffs bewusst. Sie erwägen bereits, die Erde zu verlassen und auf einen anderen Planeten umzusiedeln, wenn es ihnen hier zu heiß wird.

Selbst im unwahrscheinlichen Fall, dass es ihnen gelingt, sich abzusetzen, leben wir allerdings weiterhin auf der Erde. Nichts verspricht einen menschheitlichen Exodus, weder bald, noch in ferner Zukunft. Wir brauchen einen weiterhin bewohnbaren Planeten. Und wir sind als Individuen auf ihm nie Einzelne, sondern immer Teil von Gesellschaft. Wir leben nur gemeinsam auf der Erde. In diesem Sinne gibt es keine individuelle Freiheit.

Was wir brauchen, ist ein neuer Freiheitsbegriff, der das Leben auf einem gesunden Planeten als Teil, sogar als Voraussetzung der menschlichen Freiheit versteht. Und der das Individuum, dem unzweifelhaft gewisse unveräußerliche Grundrechte zustehen, dennoch als Teil einer Gemeinschaft begreift. Überhaupt ist unser Begriff des Individuums erst sinn- und bedeutungsvoll im Hinblick auf eine Gemeinschaft, in die es eingebettet ist: Ein Individuum erwächst aus einer Gesellschaft, in der es sozialisiert ist. Es handelt zwangsläufig unter den Umständen und innerhalb der sozialen Landschaft, die eine Gesellschaft hervorbringt und immer nur im gesellschaftlichen Beisein anderer. Ein freies Individuum, das frei ist, sein Leben zu gestalten und zu handeln, ist unvorstellbar ohne eine Gesellschaft, die wiederum kollektiv frei ist, den Rahmen, in dem ihre Glieder handeln, gemeinschaftlich festzulegen – ein Rahmen, der über die Einrichtung des freien Marktes notwendigerweise weit hinausgeht. Denn die Handlungen eines Individuums haben immer (weitreichende) Auswirkungen auf andere. In diesem Sinne gibt es keine individuellen Handlungen – und somit keine individuelle Freiheit.

Entscheidend ist zunächst, dass wir uns die Freiheit zugestehen, unser Verständnis von Freiheit überhaupt zur Diskussion zu stellen. Wie also ein solcher – im weitesten Sinne – nachhaltiger Freiheitsbegriff lautet, kann nur Ergebnis gemeinschaftlicher Aushandlung sein.

Autor*in

Leonard Wunderlich

Hat den leisen Verdacht, dass Hochschulpolitik doch irgendwo nicht völlig unwichtig ist.

Ähnliche Artikel

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Diese Website verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre mehr darüber, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden.